Nähe ist ein wichtiges Gut. Das merke ich nicht nur dann, wenn sie fehlt. Das merke ich auch, wenn sie da ist. Ich atme etwas tiefer, mein Hirn entspannt sich. Ich habe das Gefühl, dass alle Alpha-, Beta-, Gamma- und meinetwegen Deltawellen nicht nur stressig steil gen Himmel gehen, sondern außerdem auch – ganz leicht – den Boden und alles um mich herum berühren, sanft, fast gemütlich. Mein Körper ist in Sicherheit. Nähe ist ein Geschenk, das wir einander machen, einfach, weil wir da sind. Weil wir nah sein können.
Wie hältst du’s, Gretchen..?
Aber wie bekommt man Nähe? Eine sehr Deutsche Frage: im Land der Ingenieure und Gradeaus-Denker, der Abstandseinhalter und Blickevermeider spielt das Nahsein eine unerwachsene Rolle. Mit meiner eigenen Schwester – zum Glück habe ich ein ganzes Rudel! – fühlt sich ein Gespräch häufig so an, als wäre ich im Lift grade der Nachbarin aus dem vierten Stock begegnet: man grüßt sich freundlich und redet über Wetter, Haus und vielleicht ein paar andere Nachbarn, bleibt geschäftig und muss dann auch leider schon wieder aussteigen. Grüß Gott, machen Sie es gut und bleiben’s gesund! Ich denke immer wieder, wenn wir unsere seltenen Telefongespräche zwischen Nord- und Süddeutschland führen: was für eine Verschwendung! Ein Mensch, mit dem ich so viel gemein habe, den ich kenne, seit ich geboren bin und wir akzeptieren einfach diesen schön geschminkten Abstand als gottgegeben und irgendwie ok. Wir könnten für einander Resource sein, Berührungspunkte in einer Welt, die jeden einzelnen braucht. Und wir entscheiden uns für Kopfnicken und ein Grinsen, das der anderen nur zeigt: ich trage keine Waffen.
Social Distancing – wann war es denn bitte mal anders?
Dass hier so viele Leute mit Freuden den Abstand eingehalten und extra drauf verwiesen haben, wie wenig man sich bitte nah kommen darf, hat meiner Meinung auch damit zu tun, dass die Mehrheit sich einfach schwertut mit Nähe und diese eigene Unzulänglichkeit immer wieder schmerzlich vor Augen geführt bekommt: im Restaurant, bei Grillabenden, im Büro: überall Situationen, in denen ich als sozialer Mensch versagen kann, hilflos dabeistehen, enttäuschen, keine Nähe bieten. Vielleicht waren die letzten Wochen auch deswegen so ruhig und eigentlich bis zu einem bestimmten Punkt erstaunlich gesittet, weil endlich alle, die so große Probleme mit Nähe haben, sich herausreden konnten auf Gesetz und Schutz. Social Distancing ist in Deutschland auch ein ganz normaler Zustand.
Freundlichkeit ist aller Laster Anfang?
Da aber doch alle Verbindung wollen, treibt das „Wie funktioniert das denn jetzt, bitte?“ seltsame Blüten. Ich zum Beispiel bin ein großer Freund der Freundlichkeit. Das geht so weit, dass ich mich zur Zeit grade frage, ob mich diese Freundlichkeit nicht manchmal behindert. Mich zurückhält und Nähe an einigen Stellen unmöglich macht – weil ich eben dann doch die gut geölte Zugänglichkeit ab und an vor den echten Kontakt und das „authentische“ Verbinden stelle („authentisch“, habe ich von einer tollen Journalistin gelernt, ist ein Wort, das man nicht mehr benutzen sollte. Ich entschuldige mich ganz freundlich dafür).
„Grüß Gott, schönes Wetter, den Kindern gehts gut, das Wochenende war phantastisch!“
Und trotzdem glaube ich daran, dass Offenheit nur passiert, wenn ich mich öffne. Was wiederum dann passiert, wenn ich mich wohlfühle. Das Gegenüber kann da gar nicht viel tun, jedenfalls nicht mit Fleiß. In der „corporate World“ in der ich oft unterwegs bin, um zu coachen, erlebe ich immer wieder den Typen „Nähe-gehandicapt“, dem grade noch der Small Talk am Kaffeevollautomaten gelingt, alles andere aber zu komplex, zu nah, zu sozial und interaktiv ist. Aber da gibt es ja noch den anderen Typ.
„Du bist die Fliege, die ich ohne Flügel sehen will“
Es gibt diese Menschen, die Nähe mit einer Operation am offenen Herzen verwechseln. Die eigentlich nur mal sehen wollen, wie es in dir drin aussieht, ohne selbst den Schritt in die Nähe zu machen. Aus Neugier, vielleicht aus Langeweile oder Gott-weiss-aus-was-für-Gründen. Wenn so einen Menschen – zum Glück selten – treffe, hinterlässt er einen bleibenden Eindruck. Diese Leute sind erst freundlich, wie ich vielleicht. Aber ihre Freundlichkeit hat Methode. Sie wollen in dir wühlen, dich auseinander nehmen wie einen Toaster, von dem man so gern wissen würde, wie er funktioniert. Ohne eigenen Einsatz von Herz oder Liebe führen sie mit einem Lächeln in den Augen ihre Instrumente ein. Ich merke zuerst nichts. Meist sind sie zugewandt und – ja: freundlich. Das ist die Eintrittskarte ins Innerste des Gegenübers.
Der böse Wolf hat manchmal schöne Augen
Vor drei Wochen ist mir das mal wieder passiert. Ein alter Bekannter, ein Freund von Freunden. Intelligent, eigen, charmant. Ich war ein bisschen aufgeregt vor dem Treffen: wir hatten uns lange nicht gesehen und waren noch nicht oft allein zusammen spazieren gewesen. Neugierig war ich und offen und ganz bei ihm. Und er hat freundlich gelächelt und ist mir mit ein paar Fragen so nah gekommen, dass ich erst einen Tag später sagen konnte: das war eine Überschreitung meiner Grenzen. Und ich hab es zugelassen. Ich bin mitgegangen wie das Rotkäppchen, das dem bösen Wolf auch noch den Weg zur Großmutter zeigt, um schließlich selbst gefressen zu werden. Das glaubt, dass der Tipp mit den schönen Blumen fern ab vom Wege ernst gemeint war. Ein komisches Gefühl. Wenn man versteht, was da passiert ist.
Ich bin nicht dein Auto. Ich will trotzdem Nähe
Für die Nähe, die ich bekomme, bin ich selbst verantwortlich. Wie immer haben wir alle unterschiedliche Ausgangspunkte und Nähe-Prägungen. Und die wichtigste Komponente ist die Frage: wie nah bin ich mir eigentlich selbst? Je näher ich mir bin, desto weniger erschüttert mich ein Nähefummler, der einfach mal aufmachen und reingucken will, als wäre ich ein Strich 8er Mercedes. Wie freundlich kann ich zu mir selber sein? Wie sehr kann ich mir verzeihen dafür, dass ich jemandem erlaubt hab, mal kurz aufzumachen? Bei mir bleiben, egal, was passiert. Mitgefühl, zuerst mit mir selber. Ich muss nicht perfekt sein. Ich muss mich nur lieben.
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