Schickt sie mir, die vom Sturm getriebenen!
Als Kind habe ich vielen Menschen zugehört, oft unfreiwillig, weil ich kein Millenial war und nicht gelernt hatte, NEIN zu sagen. Ein 70’er Jahre Kind, noch dazu ein Mädchen, sagte nicht nein. Jedenfalls nicht zu älteren, und das waren in meiner riesigen Familie ALLE. Also hörte ich zu: Freunden, Eltern, älteren Menschen – ich erinnere mich an eine Dame, es war wahrscheinlich Mitte der 80’er Jahre, der ich als Zeitungsausträgerin den „Dom“, eine katholische Kirchenzeitung, bringen musste. Einmal im Monat war Zahltag, ein von mir gefürchtetes Datum. Die alte Dame war immer zu Hause, und so war es klar, dass, nachdem ich auf die Klingel drückte, die Tür sich öffnen, und ich ins Wohnzimmer gehen würde. Es gab nicht einmal Kuchen oder Kakao. Ich musste mich nur setzen, sie gab vor ihr Portmonee zu suchen und fing währenddessen an, mir die ewig gleichen Kriegsgeschichten zu erzählen. Ich könnte heute noch vom Leidensweg ihrer Mutter berichten und von dem, was sie ertragen musste. Aber ich war 12. Und jedes Mal, wieder und wieder die gleichen Geschichten. Obwohl ich es hasste und mir auch im Nachhinein diese Zeit noch wie eine schreckliche, dunkle Falle erscheint, in die ich wie ein armes Schaf freiwillig hineingelaufen bin, kam es mir damals nicht in den Sinn, auf ihr „Komm doch herein!“ etwas anderes als „Ja, gern!“ zu sagen. Danach saß ich dann also ein bis zwei Stunden im Schlesien von 1945 fest. Auf aufgerollten Zehennägeln und immer wieder heimlich zur Uhr schielend. Ich war ein gutes Kind und fühlte, dass die Dame in Not war. Traumatisiert. Verletzt. Und ich spürte auch, dass es egal war, wer da vor ihr saß, wem sie die Geschichte erzählte. Sie musste einfach heraus, wie ein eitriger Abszess, für den es keine Rolle spielt, wer ihn ausdrückt.
Kommt zu mir, ihr Beladenen!
Immer haben mich Leute angesprochen. Ob in Cafes, in Supermarktschlangen, auf der Straße – wenn fremde Menschen Geld, Hilfe oder ein Ohr zum Zuhören suchen, kommen sie häufig zu mir. Ich weiss nicht, was es ist, aber schon immer haben mir Fremde sehr schnell sehr intime Dinge erzählt. Auf der einen Seite ist das ein Geschenk: die Menschen vertrauen mir. Es fällt den meisten leicht, sich mir zu öffnen. Und grade, wenn man als Coach arbeitet – und vielleicht vor allem als Flirtcoach! – ist das eine große Gabe, für die ich dankbar bin. Ich genieße das Vertrauen und kann mich gut einfühlen. Ich kann einen Raum aufmachen und ihn auch halten, der es den Leuten ermöglicht, sich zu zeigen und sich wirklich mit den Dingen auseinanderzusetzen, bei denen sie gerne Hilfe hätten. Auf der anderen Seite sind da die Schwätzer.
Alles raus, was keine Miete zahlt!
Ich treffe auch häufig auf Leute, die nur mal kurz Dampf ablassen oder einfach durchfallartig grad Erlebtes loswerden wollen. Das ist dann meist nicht so dramatisch wie bei der alten Dame aus Schlesien, aber sehr unangenehm. Ich hatte von Tinderdates erzählt, auf denen die Herren der Schöpfung ohne Rücksicht auf Verluste einfach losplappern und selbst auf genervtes Nachfragen: „Sag mal, willst du nur erzählen? Willst du gar nichts wissen???“ nur kurz zuckten, ein bisschen ertappt kicherten, um dann gleich weiterzumachen und von den Frauen zu erzählen, die ihnen das auch schon gesagt hätten…
Aufräumen heisst nicht, dem Nachbarn alles in den Garten zu werfen!
Wegen meiner Geschichte als Laber-Opfer bin ich heute sehr schnell sehr angestrengt, wenn jemand mich einfach nur zutexten will, um sich an meiner Aufmerksamkeit zu schubbern wie das Schweinchen an der Borke. Das möchte ich nicht leisten. Ich bekomme einen Fluchttrieb, wenn jemand denkt, dass nichts für mich interessanter sein könnte, als das detaillierte Aufzählen von bereits genossenen Lebensmitteln, oder wie genau sich die Verspätung des Zuges zugetragen hat und wie dann doch noch der Anschluss hat erreicht werden können, mit viel Hilfe und gutem Willen aller Beteiligten – inshallah! Ich verstehe nicht, wie man so wenig Geschichtenerzähler sein kann, dass man meint, man könne halbbekannten oder gänzlich fremden Menschen seine ausgemisteten Erlebnisse vors Hirn spucken, um mal wieder klarschiff im eigenen Kopf zu machen. Ohne jede Pointe, ohne jeden Unterhaltungswert.
Auch ich, mein Freund…
Ich kenne auch sehr nette Menschen, die immer wieder die Kontrolle über ihren Redefluss verlieren und quatschen, als gäbe es kein morgen. Letztens bekam ich einen Anruf von einem Bekannten. Wir kamen darauf, dass wir beide die selbe Frau aus völlig unterschiedlichen Richtungen kennen und waren überrascht. Ich hatte sie grad erst getroffen und war von ihr besprochen worden, wie eine Warze am Kinderfuß und dementsprechend war ich immer noch erschöpft, als das Gespräch auf sie kam. Ich erwähnte meine Schwierigkeiten und sagte: „Ich halte das vollgelabert Werden einfach nicht aus!“ Woraufhin mein Bekannter kurz stutzte und sagte: „Aber du redest doch auch sehr gern?!“ Was mich umhaute.
Wer seine eigenen Ohren nur dazu braucht, um irgendwo die Kopfhörer hinstecken zu können, dem schenke ich auch meine nicht
Bin ich am Ende eine der Laberbacken, die raumgreifend ihre Geschichten jedem ans Kinn kleben, der nicht bei drei ein Taxi ruft? Ich denke darüber nach – und sage jetzt aus tiefstem Herzen: nein! Ich kann schon reden, aber ich kann wirklich auch zuhören. Und das finde ich einen wichtigen Unterschied: wenn dich am Gegenüber nichts interessiert, als dass es einen Puls hat und irgendwo zwei Ohren rauskucken, denen du dein Zeug reinschieben kannst, dann bist du kein Gesprächspartner, sondern ein Lebensverdauer, der anderen seine – pardon! – Scheiße zeigt wie ein stolzer Einjähriger, der das erste Mal ins Töpfchen macht. Erwarte bitte nicht, dass ich klatsche…
(P.S. Ich werde mich aber in den nächsten Wochen bei Freunden und Bekannten rückversichern, dass ich selbst kein Wasser predige und Wein trinke – falls einer oder eine Feedback geben möchte: jetzt wäre die Zeit!)
0 Kommentare