Lieb dein Leben, du Sau!

4. Jan. 2021 | Allgemein | 2 Kommentare

Ich schaue am Ende und am Anfang jeden Jahres irgendwie immer Youtube Videos von tollen, heiligen Menschen, die sich unglaublich freuen am Leben zu sein und genau wissen, dass jeder Atemzug ein Geschenk des Himmels ist. Sie sagen mir in diesen Videos, wie sehr sich die Welt gerade entwickelt und wie froh wir sein können, jetzt auf diesem wunderschönen Planeten zu sein. Ein bisschen fühlt sich dieses ganze „Ich liiiiiebe mein Leben!!“ an, wie meine Oma damals, die uns maulenden Teenagern böse zuzischte: „Seid doch mal DANKBAR!“ – als verpflichte uns das schiere am-Leben-sein zu permanenten Fröhlichkeitsbekundungen.

Schon die Oma hats gesagt

Ich hab meiner armen, alten Oma, die jeden Tag für uns kochte und unsere Wäsche zusammenlegte, mit uns in Klamottengeschäfte ging, um uns einzukleiden, damals entgegen geschrieen: „Wofür denn?“ wofür ich mich heute noch schäme. Traurig bin ich auch für den Teenager Susanne, der offensichtlich keinen Grund für Dankbarkeit in seinem Leben finden konnte.

Was ist „ne geile Zeit“?

Heute weiss ich, dank Youtube und anderen Social Media Kanälen, dass Dankbarkeit der Schlüssel zu allem ist. Zu mehr, besser, höher, weiter, zu einem Leben, das einen morgens aus dem Bett springen und abends rechtschaffen befriedigt einschlafen lässt auch ohne sexual Kontakte. So erzählen alle Life Gurus, alle Sterne-Kucker und sogar die Wohlstands Coaches. Dankbarkeit und Euphorie darüber, dass das Leben SO UNGLAUBLICH TOLL IST scheint als Gebrauchsanleitung für eine geile Zeit hier auf Erden zu reichen.

Zu viel „Up“ braucht manchmal auch „Down“

Dieser Freude, Erfolgs und Dankbarkeits Terror bringt mich manchmal in Verlegenheit. Wirklich erfolglos scheint man zu sein, wenn man das, was man macht, nicht stets und ständig zu 1000% mit einem Lachen im leuchtenden Gesicht vertreten und beschwärmen kann. Ich nage manchmal ziemlich an diesem Knochen „Leben“ und bin wirklich nicht immer in rosarot und mit ganz viel Glitzer unterwegs. Es gibt die großen, schwarzen Löcher, die immer wieder an Stellen auftauchen, wo ich sie schon vermutet habe, an denen aber leider kein Weg vorbeigeht. An diesen Stellen möchte mein dorsaler Vagas Nerv – ich lerne gerade dazu, der dorsale Vagas Nerv ist der, der für den Tot-stell Reflex im Körpersystem verantwortlich ist – gern einfach die Sachen packen und auschecken, was für den kleinen Kerl eigentlich schon viel zu viel Aufwand bedeutet.

Manchmal schäme ich mich für meine immer wieder nur bedingte Lebensfreude. Und manchmal weiss ich, dass dieser ganze lebensbejahende Stress, den man von Außen – natürlich auch hausgemacht – immer wieder vorgesetzt bekommt, vielleicht einfach ausgeglichen werden muss durch ein Innen, das auch in die Abgründe schaut.

Hauptsche du liebst alles, was du tust – der Rest ist mir egal

Mit einer Freundin habe ich im Sommer ein Video gedreht, in dem es darum ging, dass du heute alles sein kannst, Regaleinräumer, Putzfrau, Parkaufräumer, wenn du nur der ganzen Welt immer wieder glaubhaft versicherst, dass du deine Arbeit liebst. Es muss ja niemand verstehen, warum du gerne Klos schrubbst. Aber ein anerkennendes Nicken ist dir sicher, wenn du deine Tätigkeit als „Herzensangelegenheit“ verkaufen kannst. Und so sitzen jetzt viele „Schmiede ihres eigenen Glückes“ und tun so, als sei Verkäuferin, Kellner, Ordnungsdienst der tollste Job, den man sich vorstellen könnte. Es gibt bestimmt viele, die ihre Jobs, egal welche, lieben und gern machen. Nur der Stress, den es bedeutet, dafür verantwortlich zu sein, diese große Freude immer wieder zu zeigen, der Welt mitzuteilen, dass ich grad genau am richtigen Platz und wundervoll glücklich und – ja, erfolgreich – bin, der isoliert alle, die mitspielen wollen beim Hase-und-Igel Erfolgsspiel: ich bin schon da! Weil jetzt zwar jeder und jede ganz leicht „erfolgreich“ sein kann, aber nicht mehr offen und ehrlich sagen, wie es wirklich geht.

Und wenn ichs doch mal scheiße finde..?

Ich wünsche mir Mut zur Ehrlichkeit – und zwar von mir selber. Dass ich nicht in die von meiner Freundin und mir so witzig vergurkte Falle tappe, mit vorauseilendem Gehorsam einfach alles geil zu finden, was ich mache, damit der Rest der Welt davon überzeugt sein kann, dass es hier kein Problem gibt. Das ist wie Downton Abby, wo alle Hausmädchen und Butler sich nichts schöneres vorstellen können, als ihren Herren zu dienen. Ein bisschen so wirkt dieses: meine Putzfrau LIEBT ihre Arbeit!! der heutigen „besseren Schicht“ : ich muss mir einfach keine Sorgen um Leute machen, die die Drecksarbeit erledigen, weil sie sie ja lieben, diese süßen, schrägen Vögel!

Wach bleiben, lebendig bleiben, auch, wenn das bedeutet, dass nicht jeder Atemzug manisch gefeiert werden muss.

2 Kommentare

  1. Gute Gedanken!
    Ich denke mal es heisst Ehrlichkeit vor mir selber, nicht von mir selber. Rebelliert da schon das Unterbewusstsein? ????????????
    Naja ich nehms mal nicht an.
    Da könnt ich jetzt ewig schreiben weil ich soviele Menschen kennengelernt habe. Reich, arm, glücklich, unglücklich, scheinbar glücklich, auf Droge oder Pille (scheinbar?) glücklich, Kranke, Todkranke, schlaue, dumme…
    Ich kann nur sagen den Worten der Menschen kann man nur bedingt trauen. Entweder lügen sie nicht, oder sie versuchen dich zu belügen oder sie wissen nicht dass sie sich selbst belügen.
    Meist erkennt der Mensch die wahren Werte wenn der Sensenmann vor der Tür steht. Aber er muss sich auch nucht unbedingt dir gegenüber öffnen und es hinausplärren. Weisheiten gibt es viele in vielen schlauen Büchern und man kann sie auswendig lernen. Aber es geht eigentlich nicht ums Wissen, sondern ums Fühlen. Und da gelten andere Gesetze als Logik und Bildung.
    An der Dankbarkeit arbeite ich auch schon lange. Habe heute wieder mit einem Krebspatienten gesprochen der vor 2 Monaten sein Ablebensdatum bekam. War unfassbar für ihn. Dann hat ihm ein anderer Arzt Hoffnung gemacht und jetzt lebt er Tag für Tag bzw. versuchts.
    Und ich weiss fass ich vor Freude zerplatzen müsste weil gesund bin. Geht aber nicht ????
    Dankbarkeit ist wie Trauer: Arbeit
    Dankbarkeit ist die Wachsamkeit der Seele gegen die Kraft der Zerstörung (Marcel)

  2. Ehrlichkeit von mir selber kann ich schon erwarten, oder mir wünschen- das war kein freudscher Versprecher. Dankbarkeit ist ja auch spitze – aber dass einem alle immerzu ihre goldbemalten Ärsche ins Gesicht halten wollen, geht mir auf die Nerven. Ich meditiere jetzt… OM, mein Gutster!

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert