Cool ist uncool – Michael Jackson vor ALDI

12. Jan. 2021 | Allgemein | 0 Kommentare

Als ich 15 oder 16 war, gab es in meinem Heimatort Minden/Westfalen drei Diskos: Das Studio M für die Schickeria, das auch, worauf wir lange stolz waren, in einem Lied von Franz Zander vorkommt. Die Grille, eine „Bauerndisko“, was es wirklich nur auf dem Land gibt – vor allem den abwertenden Spitznamen. Und die Musikbox, von uns zärtlich „Box“ genannt, wohin wir wirklich coolen People gingen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinen Freundinnen auf der Tanzfläche zu „The Passenger“ getanzt habe, einem Lied, das im Refrain reichlich „La La La“ bietet.

Danke, Gott, für LaLaLa!

Mir gegenüber tanzte Anne ausgelassen und darauf bedacht, gut auszusehen – wie wir alle. Außerdem bewegte sie die Lippen auf eine Art, die so tat, als sänge sie den Text des Liedes mit. Aber man musste keine Schule für angewandtes Lippenlesen besucht haben, um zu wissen, dass das, was Anne machte, nichts mit dem Text des Liedes zu tun hatte, sondern einfach irgendwelche Gesichtsverrenkungen waren, die erst, wenn das laute LaLaLaLaLaLaLaLaLaLaLaaaaa anhob, synchron wurden. Mir war das stellvertretend so peinlich, dass ich mindestens innerlich die Augen rollte – vermutlich auch äußerlich, jedenfalls würde ich das meinem leicht verwirrten 15 jährigen ich zutrauen.

Fremdscham, dein Name ist Teenagerzeit

Für mich wäre das das letzte gewesen. Etwas nicht zu können, nicht zu wissen, nicht zu beherrschen und irgendwie doch zu tun. Darum war ich als Teenager wohl auch oft desinteressiert – die sprichwörtlich zu hohen Trauben haben mir schnell den Spaß vermiest und mich lieber elegant Abstand nehmen lassen.

Dieses perfekt, cool und unantastbar sein, ist ein Erbe, an dem ich manchmal schwer trage. Vielleicht auch auf Grund meiner westfälischen Landjugend: bei uns wird der Spruch „was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht!“ noch mit Stolz hergesagt, einen echten Mann darf nichts erschüttern und eine richtige Frau hat immer was zu tun und spricht ein bisschen zu hoch.

Wenn Gott dir wirklich zeigt, wo der Hammer hängt

Letzte Woche, als es noch nicht so kalt war, gab es vor dem Motorama, einem Einkaufszentrum am Rosenheimer Platz, eine kleine Sensation. Ein aufgedrehter Ghettoblaster kündigte schon 100 Meter davor etwas jenseits des Alltäglichen an. Als ich näher komme, sehe ich einen Mann, vielleicht Mitte, Ende 20. Portugiese? Rumäne? Er trägt ein Kabelloses Mikrophon, das gleichzeitig Lautsprecher ist. Aus dem Ghettoblaster peitscht Michael Jacksons BILLY JEAN ein. Der junge Mann steht gegenüber vom Einkaufszentrum, vor sich eine Zeitung, auf der eine Flasche Wasser und zwei Tüten Kokosmilch stehen, um die Zeitung am Boden zuhalten, falls der Wind sie mitnehmen möchte. Außerdem ein paar Münzen. Wer die 90’er noch auf dem Schirm hat, erinnert sich an den King of Pop, seinen Moonwalk, die Stimme, die Nase. Unser junger Freund steht also hinter einer Zeitung vor einem Einkaufszentrum und gibt den Tanzbodenkönig: leidenschaftlich schiebt er sich übers Pflaster, biegt Arme und Körper zu fast perfekten Kopien des Meisters. Und er singt seine Version, aus der Boom Box kommt die original Stimme, für eine Karaoke Version hat es vielleicht nicht gelangt.

Nichts Cooles. Aber gar nichts.

Und er lächelt. Man sieht, dass er Spaß hat, jetzt nirgendwo anders sein will als vor diesem ollen Einkaufszentrum und eine Frau besingen und betanzen, die einem armen Mann ein Kind angehängt hat: on the floor in the round. Als ich ihn nach einem Foto frage, freut er sich noch mehr. Er kichert, fast wie ein junges Mädchen hält er sich verschämt und euphorisch zugleich die Hände vor den Mund. Seine Augen strahlen.

Wer Freude will, kann sie überall finden

Ich denke: was für ein Typ! Denkt gar nicht daran, sich zu schämen, weil die Situation irgendwie armselig ist mit seiner Zeitung und seinem ALDI Wasser, seinem schlechten Mikro, hinter ihm die Straße, vor ihm dieses 70’er Jahre Einkaufszentrum. Er macht einfach, was ihm Freude bringt. Ohne Mittel, ohne anderen Zweck als ein bisschen Spaß zu haben und ein paar Euro zu verdienen. Er singt laut und nicht schlecht, der Text ist reinstes Fantasieenglisch, aber auch das stört ihn nicht. Ich beneide ihn.

Auch Lachen steckt an. Und Freude.

Was ist Freiheit, wenn nicht das? Meine Freude wird zu deiner Freude und braucht kein Equipment – habe ich das schon gesagt, dass mich diese kleine Episode unperfekten Vergnügens so ansteckte, dass ich letzte Woche jeden Tag an die Stelle zurückgekehrt bin, um den Mann zu sehen? Um als Januarverdrossene, die manchmal ein Stützrad für den Sinn des Lebens braucht, ein bisschen an seiner Lebenslust zu saugen?

Ab und zu darf man sehen, dass viel mehr möglich ist, als man sich erlaubt. Ab jetzt wird nur noch falsch gesungen – aus therapeutischen Gründen und mit Fleiß.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert