Bitte kein Storytelling: wenn Geschichten nerven

18. Jan. 2021 | Allgemein, Vortragscoaching | 0 Kommentare

Letztens hat mich ein Marketingberater auf meinen Wunsch hin angerufen. Ich hatte wenig Zeit und hab ihm das auch gleich am Anfang gesagt: ich hab leider nur kurz Zeit. Ich hatte aber trotzdem ein paar Fragen, z.B. wie das Training, das er anbietet aufgebaut sei. Er erklärte mir, dass er mit einem Kollegen zusammen arbeite, der den harten Marketingpart übernähme, er selber wäre eher für das „Mindset“ zuständig. Dass er sich mit diesem sehr soften Wort „Mindset“ selbst nicht ganz über den Weg traute, wurde mir klar, als er anfing zu erzählen, warum er sehr gut darin sei, Mindsetarbeit zu machen. Er holte aus: „Ganz kurz zu meiner Geschichte: ich hatte mit 18 einen sehr schweren Motorradunfall und die Ärzte haben mir gesagt, dass ich nie wieder würde laufen können…“ an der Stelle unterbrach ich ihn ein bisschen ungeduldig (ich hatte WIRKLICH nicht viel Zeit): „Ja und dann hast du es mit Hilfe deines Mindsets geschafft, wieder aufzustehen und führst heute ein ganz normales Leben.“ Draufhin unser Mindsetexperte, ein ganz kleines bisschen perplex: „Ja“

Haste mal ’n Ohr?

Im Nachhinein tut es mir fast ein bisschen leid, seine bestimmt hart durchlittene und durchlebte Geschichte so prosaisch abgekürzt zu haben. Aber ganz ehrlich: READ THE ROOM! Wenn dir jemand sagt, dass er oder sie grad echt nicht viel Zeit hat, dann verschleuder nicht deine kostbare USP Story in einem hektischen Elevator Pitch, wenn es erstmal wirklich nur um Eckdaten und „finde ich die Stimme/den Typ sympathisch?“ gehen sollte. Respektier deine eigene Geschichte so weit, dass du sie nicht wie ein Betrunkener an der Theke jedem Fremden für ein Bierchen aufs Auge drückst.

Geschichten funktionieren oft ähnlich

Und egal, was für eine Kraft deine Geschichte mal hatte, welchen Wendepunkt sie in deinem Leben bedeutet hat: ich kenn dich nicht. Aber ich kenne die vielen „große Probleme, durch eigene Kraft überwunden“ Geschichten – aus Hollywood, aus der drei-Akt-Storytelling Praxis, von den 80 Millionen Leuten, die mir jeden Tag auf Social Media erzählen, wie dick, einsam, arm und krank sie früher waren. Und es jetzt nicht mehr sind, weil X.

Automatismus berührt nicht

Stories stellen Verbindung her. Aber nicht in jedem Fall. Es gehört mehr dazu, als die Erinnerung daran, dass da mal irgendwann ein echter Einschnitt in der Biographie war. Dieser junge Mann, mit dem ich geredet habe, hat bestimmt vor ein paar Jahren mal an seiner Geschichte gearbeitet. Dieses „vom Rollstuhl zurück ins Leben“ hat natürlich riesiges Potential. Aber nur, wenn ich einen Menschen dahinter erkenne. Als Pflichtveranstaltung verschwendet sie meine Zeit. Nach dem Motto: immer, wenn ich meinen Mindset Ansatz erkläre, kommt AUTOMATISCH diese Geschichte dazu, is eben so! Da ist das „Storytelling Mindset“ leider eins, mit dem ich nichts anfangen kann.

Nochmal mit Gefühl

Ich liebe Geschichten! Ich höre auch gern zu, wenn Menschen mir aus ihrem Leben erzählen. Aber immer nur, wenn ich „das Blut rauschen höre“ und kein Tonband – pardon: keinen Podcast oder so.

Du kannst nur berühren, wenn du berührt bist

Und diese Herausforderung gehört genauso zum Storytelling wie das Wording oder die Struktur: wenn ich tatsächlich eine Geschichte erzähle, also physisch und vor Leuten: wie geht das, dass ich auch nach 100 Mal immer noch inspiriere? Wenn du dich selber schon nach dem 20. Mal kalt lässt und nur noch abspulst, kannst du davon ausgehen, dass deine anvisierten Kunden wahrscheinlich auch nicht so begeistert reagieren werden. Und unter Umständen auch keine Zeit haben für dein brav aufgesagtes Geschichtchen.

Was wir von Schauspielern lernen können

Das ist auch der Grund, warum Schauspieler*innen innerlich mit den Augen rollen, wenn „normal Sterbliche“ ihnen beeindruckt zurufen: „So viel Text lernen! Das ist ja toll!“ weil: Text lernen ist nicht die schwierige Aufgabe für den Schauspieler. Die echte Aufgabe ist, in sich so viel Platz zu schaffen, dass man auch nach 100 Mal noch darüber traurig sein kann, dass der Vater im Stück gestorben ist, dass man sich nach 500 Mal noch freuen kann, dass der Geliebte heil von der Reise zurückgekommen ist und dass man auch nach 1000 Mal überrascht oder geschockt auf eine schreckliche Nachricht reagieren kann.

Niemand will von seinen Kunden Mitleid

Niemand muss Schauspieler werden, um seine oder ihre Geschichte gut erzählen zu können. Aber lebendig bleiben, mitatmen und mitfühlen mit dem, was ICH selber erlebt habe, wach bleiben für den Anderen und den Zeitpunkt, das sollte jeder können. Sonst wirst du mit deiner Geschichte zu einem Bettler um Aufmerksamkeit, den die Menschen meiden, weil für sie nichts dabei zu gewinnen ist, außer der guten Tat, sein Mitleid und ein paar Pfennig Zeit verschenkt zu haben an einen Bedürftigen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert