Es gibt Gründe, warum ein Spiel Regeln hat. Ich komme aus einer Familie, in der bei jedem Brettspiel betrogen und behumpst, in der jedes Kartenspiel mit einem gut gesetzten „Guck mal da!“ in die „richtige Richtung“ gelenkt wurde. Als Kind ist mir das nicht so aufgefallen, aber später, als ich nicht mehr in Minden, sondern in München wohnte, hat es mich genervt.
Wer die Regel beachtet, ist selber Schuld
Zum Beispiel als ich mit meiner Schwester, ihrem seit gefühlten 25 Jahren angetrauten Ehemann und ihrer – damals – 12 jährigen Tochter, die ich wegen der Entfernung nur alle Jubeljahre sehe, ‚Tabu‘ spielen wollte. Schnell war meiner Schwester und ihrem Mann die Paaraufteilung für das Spiel klar: Eheleute gegen Tante und entfremdete, noch-nicht-ganz-Teenager Nichte.
Nachdem die Kleine zu erratende Worte wie „Akustiker“ oder „Sonnenwende“ nicht einmal kannte, musste meine Schwester nur „Der Hund von Frau Lehmann!“sagen, wenn ihr Partner den Namen „Caesar“ erraten sollte.
Die beiden schlugen uns – oh Wunder! – um Längen und als ich anmerkte, dass ihre Art zu spielen ziemlich unfair sei, machten sie sich über mich als schlechte Verliererin lustig. Ich liebe dieses durchgedrehte Ehepaar und wenn sie an diesem Wochenende zu Besuch nach München kommen, freue ich mich sehr. Aber spielen werden wir nicht.
Regeln brechen ist brutal. Das Spiel erweitern ist kreativ.
Am Samstag war ich mit Freunden auf einem Konzert im Import/Export, einer Bar mit Bühne in München. Eine Mazedonische Band hatte für neun Uhr eingeladen und als wir pünktlich wie die Maurer um fünf nach neun aufkreuzten, wurde wir vertröstet mit den Worten „In Mazedonien heisst 9 Uhr vielleicht 10 Uhr oder vielleicht 11 Uhr..“. Wir warteten auf den Bänken vor der Bar, die Nacht war mild und das Bier kalt. Neben uns ganz junge Mazedonier, die gern Auskunft gaben über das Leben in ihrem Land und die Musik, die wir gleich zu hören kriegen würden. Auf der anderen Seite stand eine Tischtennisplatte mit Schlägern und Ball und ein paar kleinen Kindern, die viel zu spät alleine draußen waren. Da wir am nächsten an der Platte saßen, kamen sie bald auf uns zu und fragten, ob wir Lust hätten, mit ihnen zu spielen. Mein Freund Wolfgang war so freundlich und nahm mit den Dreikäsehochs die Schläger in die Hand. Die Kinder waren wirklich noch klein, vielleicht drei oder vier Jahre und hatten keine Ahnung, wie man einen Ball über die Platte bringt. Wolfgang blieb beeindruckend gelassen und zeigte und lobte und lächelte.
Ich bemerkte bald, dass die Kleinen, die teilweise nicht mal über die Platte gucken konnten, die Welt unter der hoch gelegenen Spielfläche einfach mit einbezogen. Das Ballaufheben gehörte jetzt auf komplizierte Art zum Spiel dazu. Wie genau gelaufen wurde, um den Ball wieder hochzunehmen, spielte eine große Rolle. Prozesse, die sonst lästig sind und marginalisiert werden, bekamen eine Aufmerksamkeit, die das schufen, wonach sich die Erwachsenen immer sehnen, was sie sich aber selten erlauben: den kreativen Umgang mit dem Alltäglichen.
Ein Clown, der Blödes dabei denkt
Das ist genau das, was Clowns machen. Alltägliche Verrichtungen und Abläufe brechen sie auf in Handlungsschritte, die sie dann einzeln ad Absurdum führen. Wer jetzt sagt, dass er oder sie keine Clowns mag, hat noch keinen guten gesehen. Wer Angst vor ihnen hat (ich habe gehört, dass die Angst vor Clowns die weit verbreitetste ist!) entschuldigt bitte.
Die alte Tracht anziehen und mit saurem Gesicht behaupten: „Das war schon immer so, das haben wir schon immer so gemacht!“ ist keine Kunst. Es liegt so viel „Spiel“-Raum im Prozess, nicht nur der Teufel steckt im Detail, sondern auch die Freiheit. Jeder Vortrag gewinnt, wenn man anstatt des „So muss man es doch machen!“ sich selbst beobachtet und schaut, was einen wirklich inspiriert – und auf der Basis dann seinen Vortrag kreiert.
Ich wünsche euch allen die Möglichkeit, mal UNTER die Tischtennisplatte zu schauen und dort ein neues Spiel zu finden.
Für Paco Gonzalez, den großartigen Clown, der jetzt wo anders lustig ist <3
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