Heute früh war ich in der U Bahn, wie fast jeden Tag. Ich kenne Leute, die die öffentlichen Verkehrsmittel leidenschaftlich hassen: ich nicht. Ich habe ein bisschen Angst vor Krankheiten und vor schutzlos hustenden Virusträgern, aber ich sehe so gern Menschen an. Mein Freund hat mich letztens darauf hingewiesen, dass ich mit großen Augen andere Leute anglotze, wenn sie etwas machen, was ich irgendwie interessant finde. Einmal hat mir eine Mutter von Zwillingen Kekse angeboten, nachdem sie dachte, dass ich hungrig auf ihren Proviant starren würde.
Heute Morgen saß mir eine junge Frau gegenüber. Sie hatte die Tasche auf dem Schoß, öffnete sie und bemerkte nicht, dass ihr eine kleine Kette auf den Boden fiel. Ich sah es und dachte müde: ich sag ihr, dass sie die Kette verloren hat, als auch schon ein junger Mann aufsprang, sich bückte und ihr das zarte Schmuckstück zurückgab. Die junge Frau hatte ungewöhnlich große Augenlider. Dass weiss ich, weil sie die ganze Zeit zu Boden sah. Es waren flächige, große Lider, der Traum einer jeden Make-up Künstlerin. Als der Mann ihr nun die Kette entgegenhielt, schlug sie nicht etwa die Augen auf um ihren Ritter mit einem Blick zu belohnen. Sie nahm ihr Halsband, lächelte schwach und sah keine Sekunde ins Gesicht desjenigen, der vor neun Uhr früh die kleine Sporteinlage auf sich genommen hatte, um ihr zu helfen. Es tat mir gleich leid für ihn, der sich sicherlich eine kleine Anerkennung gewünscht hätte ( ich habe grade das Gefühl, als könnte man mir das vorwerfen: junge Frau bedankt sich nicht angemessen bei jungem Mann, der etwas Nettes für sie tut: jetzt müsste sie ihn doch ranlassen! Aber das meine ich natürlich nicht!)
Ich bin ein Fan von Dankbarkeit und Verbindung und – so alt das ist – mit nichts stellt man schneller Verbindung her, als mit dem Blick.
Ohne das Geschenk des Blickes braucht Zwischenmenschlichkeit Berührung: wie die Blinden, die sich mit den Händen betrachten oder Liebende, die das Licht löschen.
Ich weiss noch, wie ich vor ein paar Jahren, als ich in New York studierte, völlig perplex war über die Begegnung zweier Männer, die ich an der Kreuzung in einem Bus sitzend mit ansehen konnte.
Ein Mann stand an der Ampel. Ein zweiter kam hinzu, man tauschte eine Handgeste aus und redete vielleicht 2,3 Minuten miteinander. Und die ganze Zeit schaute der eine links die Straße hinauf, der andere rechts die Straße hinunter. Irgendwann ging der eine weiter: sie hatten sich die ganze Zeit nicht einmal angeschaut.
Ich fand das so verbindungslos, dass ich noch oft darüber nachdachte. Ich versuchte es danach sogar manchmal, Menschen ein bisschen spärlicher anzuschauen, als ich normalerweise tue. Es hat mir nicht gefallen.
Und dann erinnere ich mich an einen Besuch in Tel Aviv bei meiner Freundin Karine. Ich war allein auf der Straße, ging spazieren und wollte irgendwann zurück nach Hause. Ich hatte keinen Plan dabei und wusste nicht mehr, wohin ich gehen musste. Also dachte ich: fragste jemanden. An der Ecke gab es eine Autowerkstatt, von der ich mir Hilfe erhoffte. Ohne Berührungsängste trat ich durch das Eingangstor und fand einen arabischen Automonteur über einen Wagen gebeugt. Freundlich sprach ich ihn an in der Hoffnung, dass er Englisch verstehen würde. Das tat er nicht, als er aber sah, wen er vor sich hatte, hellte sich sein Gesicht in einer Weise auf, wie ich es noch nie – ich schwöre! – gesehen habe. Er strahlte mich an, liebevoll und bewundernd, offen und so freundlich, dass mir gleich die Tränen in die Augen schossen. Er konnte mir mit dem Weg nicht helfen, aber er hat mir etwas mitgegeben, was mir als Erinnerung bis heute lieb und teuer ist: das Gefühl mit einem Blick wirklich berührt worden zu sein.
Auch darüber habe ich lange nachgedacht – es war einige Jahre nach meiner asozial-coolen New York Erfahrung. In Israel ist es mir überhaupt häufiger passiert, dass Menschen mich so offen angeschaut haben, dass ich mich fast nackt fühlte und erst da bemerkte, dass wir in Deutschland eigentlich fast immer eine „anständige Brille“ tragen, die zu nahen Kontakt verhindert. Vielleicht stimmt das auch nicht: es ist nur meine Erfahrung und heult das alte Klischeelied von den Deutschen: kalt und hart, einsam und fleissig.
Aber dieses kleine ins-Herz-schauen, das ich erfahren habe, dieses wirkliche ansehen und anerkennen: ah! Ein Mensch! Ist eins von diesen Dingen, die das Leben lebenswert machen. Finde ich. Deshalb mein Plädoyer: Macht die Augen auf! Nehmt die geschäftlichen Bretter vorm Kopf ab und schaut euch an. Was haben wir sonst? Ein Blick kann Fülle und Reichtum sein. Danke an alle, die wirklich schauen, die mich wirklich ansehen und sich ansehen lassen.
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