Auf eigenen Füßen stehen

21. Jan. 2017 | Alle, Vortragscoaching | 0 Kommentare

Immer, wenn ich am Marienplatz die große Rolltreppe nach oben benutze, drehe ich mich mit dem Rücken in Fahrtrichtung, so dass ich sehen kann, was unter mir passiert. 

So konnte ich letzte Woche eine alte Frau beobachten, die, in niederbayrisch/bulgarisch/ österreichischem Kopftuch und knöchellangem Wollrock auf dem Weg nach unten zur U-Bahn war.

Sie fuhr ganz gemütlich wie ich. Als sie allerdings am Ende der Treppe angekommen war, stockte sie. Hinter ihr lief ein kleiner Haufen Menschen auf, die jetzt umständlich um die dicke Dame herum manövrieren mussten.

Der Strom aufgehaltener störte sie nicht. Sie starrte auf eine Stelle am Boden und konnte offensichtlich nicht weiter gehen. Ich war kurz besorgt: hatte sie etwas verloren? War ihr die Börse aus der Hand gefallen? Hatte sie einen kleinen Schlaganfall? Irgendwas passierte da unten. Da aber alle, die an ihr vorbei gingen sich zwar nach ihr umdrehten, aber keiner stehen blieb, um ihr zu helfen, ging ich davon aus, dass alles in Ordnung war. Irgendwann schaffte sie es, einen großen Schritt zu machen und aus der metallenen Ausgangsschneise der Rolltreppe zu treten. Jetzt sah ich, dass sie mit sich selber sprach, sich umdrehte um noch einmal die Stelle anzuschauen, an der sie so lange verharrt hatte und sich schließlich bekreuzigte. 

Als säße Beelzebub persönlich in den Ritzen der Rolltreppe stand sie da, aufgebracht gestikulierend und sich immer wieder bekreuzigend. 

Was immer die Frau gesehen haben mag, für sie war es ein Zeichen, dass ein Unglück heraufzieht, vor dem sie nur ein Kreuzzeichen schützen kann. Niemand sonst hat es gesehen, niemand hat sich daran gestört. Sie hat von etwas ihren Puls in die Höhe jagen und sich aufhalten lassen, von dem die anderen Treppennutzer nicht einmal bemerkt haben, dass es da war. 

Wie ich so dahin rollte und die Szene beobachtete, musste ich an Rituale denken. Hilfreiche, hinderliche. Obwohl ich die alte Frau und ihr Leben nicht kenne, sah das, was sie veranstaltete aus wie ein Ritual, das nicht wirklich das Leben vereinfacht. Wir alle pflegen Rituale beider Kategorien – normalerweise nicht so auffällig wie die alte Frau. 

Nachdem ich lange darüber nachgedacht habe, würde ich hilfreiche Rituale alle wiederkehrenden Verhaltensweisen nennen, für die ich mich aktiv entschieden habe. Morgens joggen, meditieren, Yoga, ect. wären in dem Sinne hilfreiche, aufbauende Rituale.

Und dann gibt es noch die 1000 Ventil-Rituale, die wir brauchen, um unser Nervensystem zu beruhigen, um wieder in den Takt zu kommen, um mit Dingen umzugehen, die uns irritiert oder aus der Bahn geworfen haben. Ursprünglich positiv, werden sie mit der Zeit echt oll. 

Ein guter Freund von mir fängt regelmässig an zu rauchen, wenn ihm etwas passiert, mit dem er nicht umgehen kann. Er raucht dann für eine Weile und gewöhnt es sich wieder ab. Ungefähr fünf mal im Jahr. Wenn mir etwas richtig doofes passiert, schmeiss ich mich manchmal aufs Sofa und bin bockig mit der Welt. Als Kind habe ich mich unter das Bett geschmissen, so lange, bis meine Oma zu mir gekrochen kam und ganz freundlich rief: „Susi! Komm doch wieder raus!“ dann habe ich mich ein bisschen bitten lassen und bin schließlich gnädig wie eine Königin wieder hervor gekommen. 

Heute kommt niemand mehr, aber es scheint mir manchmal so, als warte ich noch immer auf meine Oma und ihren lieben Satz. Das „beleidigte Königinnen Ritual“ macht nicht mehr so viel Spaß, steckt aber noch in mir drin und braucht ab und an sein trotziges Kleinkindfutter. 

Während ich das schreibe, spüre ich, dass es 1000 Alternativen zum Couchgeschmeisse gibt. Es ist ein Knüppel im Getriebe, es hält auf und zieht mich runter. Aber ich habe es mir irgendwann antrainiert. 

Zum Glück ist mein Sofa weich und der rituelle Anfall von kurzer Dauer. Trotzdem ist er ein kleines Gefängnis, für das ich mich manchmal, wenn ich „Fuck you, Welt!“ denke, entscheide. 

In meiner Arbeit sind meine Füße wirklich wichtig für mich. Der gute Stand, die Verbindung zum Boden. Heute kam mir in den Sinn, dass die „inneren Füße“ genauso wichtig sind. Deine Werte, deine Ausrichtung, deine Fähigkeit weiterzugehen, wenn du mal hingefallen bist. Stehst du innerlich auf wackeligen Babyfüßen oder hast du einen kraftvollen Stand, den nichts so schnell umschmeisst? 

Was kannst du tun, um deinen inneren Füßen Halt zu geben, sie zu trainieren und zu wirklich verlässlichen Partnern zu machen, die auch einem Anflug von Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung Stand halten?

I’m still standing!

 

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert